Im Herbst 1944 – also vor 80 Jahren – begannen Flucht und Vertreibung der Donauschwaben. Das Herannahen der Roten Armee veranlasste auch im rumänischen Banat viele zur Flucht, vor allem Frauen und Kinder, denn die meisten Männer waren abwesend.
Durch die Flüchtlinge aus der Ukraine, mehrheitlich Frauen und Kinder, rückte das Thema „Frauen und Flucht“ in die Schlagzeilen. Die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit sind Frauen und Mädchen. Während der Flucht tragen sie oft große Verantwortung in der Familie, und auch bei der Integration spielen sie eine wesentliche Rolle. Aus Anlass des Frauentags 2024 hat die Frauenakademie der Volkshochschule Ulm gemeinsam mit dem Ulmer Donaubüro und der Kulturreferentin für den Donauraum am DZM Ulm zu einer Diskussionsrunde zum Thema: „Mit schwerem Gepäck – Frauen erleben Flucht und Vertreibung“ eingeladen. Auf dem Podium diskutierte Hiltrud Leber mit Frauen über Fluchterfahrungen früher und heute. Aus dem Banat nahm auf Vorschlag der HOG Lenauheim Ingrid Jung, geb. Blassmann, teil. Sie erzählte über die Flucht ihrer Familien Gerber und Blassmann, die aus Österreich ins Banat zurückkehrten. Dort erlitten sie das Schicksal der Deportation in den Bărăgan, wo Ingrid Jung 1955 geboren wurde.
Aus Anlass des 80. Jahrestages der Fluchtereignisse veröffentlichen wir nachfolgend die Fluchtgeschichte ihrer Familie. Sie steht in vollständiger Fassung auch in dem kürzlich erschienenen Band: „Flucht der Deutschen aus dem Banat im Herbst 1944“, hg. v. Albert Bohn, Werner Kremm und Anton Sterbling (Banater Bibliothek 26).
Schilderung der Flucht aus Lenauheim, der Rückkehr und der Deportation
Im Herbst 1944 setzte auch im Banat die Flucht vor dem Herannahen der Roten Armee ein. Tausende Menschen flüchteten in Richtung Westen. Aus Lenauheim sind 1053 Personen geflüchtet. Die Männer waren im Krieg. Die Sowjetarmee rückte immer weiter vor.
Am 15. September 1944 haben die deutschen Militärs die Bevölkerung zur Flucht aufgerufen, jedoch mit unbekanntem Ziel. Es wurde gepackt, der Traktor mit Anhänger, Wagen und Pferde, am hinteren Wagenteil war noch die Kuh angebunden.
Am 16. September um 8 Uhr ging es los. Es bildete sich eine Kolonne von über einem Kilometer. Bei Hatzfeld ging’s über die Grenze. Die Kolonne kam nur schleppend voran. In Heufeld war die erste Station. Alle waren in Häusern auf den Bauernhöfen einquartiert, die Pferde bekamen Futter. In Sigmundsfeld blieb die Kolonne einige Tage, auch hier waren alle in Häusern untergebracht. Von hier fuhr ein Lastwagen nach Lenauheim zurück. Man sagte, die Lage habe sich gebessert, ältere Leute wollten die daheim gebliebenen Tiere versorgen. Doch plötzlich hieß es: Sofort aufbrechen, denn die Partisanen seien in der Nähe. Wie sich später herausstellte, sind einige Lenauheimer zurückgeblieben. Waren sie von dem plötzlichen Aufbruch überrascht? Oder wollten sie nicht weiter? Die jugoslawischen Partisanen haben die Zurückgebliebenen ausgeraubt und gefoltert, die Frauen missbraucht. Zehn Männer und eine Frau wurden im Lager grausam geschlagen und dann erschossen, die anderen kamen ins Arbeitslager in die Sowjetunion. Bei Rudolfsgnad fuhr die Kolonne über die Theiß. Hier blieb man eine Woche, alle waren bei deutschen Familien untergebracht. Die Milchkuh musste geschlachtet werden, die Klauen waren wundgelaufen. Langsam kam der Herbst. Über die Wägen bog man starke Ruten, vorwiegend von Maulbeerbäumen, danach deckte man sie mit Planen ab. Wie wir erst später erfuhren, gab es in Rudolfsgnad und in anderen Orten der Gegend Hunger- und Vernichtungslager, Menschen waren massenhaft von Typhus, Krätze und Läusen geplagt, sie schliefen auf Heu in verdreckten Laken. Die Untaten der Partisanen wurden zwei Generationen lang tabuisiert. Der serbische Autor Dragi Bugarcic aus Werschetz hat in seinem Roman „Dreilaufergasse“ diese Ereignisse aufgearbeitet.
Am 5. Oktober 1944 ging die Fahrt weiter nach Baja, wo die einzige Brücke über die Donau war. Wegen der vielen Schotterstraßen mussten die Hufeisen der Pferde erneuert werden. Auch an den Wägen waren Reparaturen erforderlich, da kam eine Pause von einigen Tagen ganz gut. Eine weitere Station war Siofok am Plattensee, über dem See gab es schon Morgennebel. Ab hier haben alle im Wagen bzw. im Freien übernachtet. Weiter ging’s über Veszprém und Janosháza nach Sopron und Klingenbach. Hier gab es die erste Vesper von der einheimischen Bevölkerung. Danach ging es weiter nach Wiener Neustadt. Es war Fliegeralarm, ein Bombenhagel ohne Ende. Glücklicherweise sind alle davongekommen. Ein Drittel der Lenauheimer fuhr nach Perg/Naarn und die anderen zwei Drittel fuhren in den Böhmerwald nach Krumau. Die Flucht dauerte sechs Wochen. Anfangs waren die Lenauheimer in einer Schule untergebracht. Nach und nach wurden die Mütter und ihre Kinder den Bauern zugeteilt. Jede Familie hatte eine Küche und ein Zimmer. Es gab Lebensmittelkarten, mit denen man das Nötigste einkaufen konnte, sowie weitere Lebensmittel vom Bauern. Dann ging’s für einige Wochen in die Schule. Nach den Weihnachtsferien waren sechs Wochen „Kohleferien“, weil zu wenig Heizmaterial zu Verfügung stand. Danach war noch vier Wochen Unterricht. Die Zeugnisse wurden später allerdings nicht anerkannt. Aus der Heimat gab es keine Nachrichten, kein Radio, keine Zeitungen.
Mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 kamen die Amerikaner, später die Russen. Die Siegermächte trafen Vereinbarungen über die Besatzungszonen. Hierzu gibt es im Nürnberger Justizpalast eine ausführliche Dokumentation. In der sowjetischen Besatzungszone wurden die Flüchtlinge zur Rückkehr aufgerufen: Jeder sollte dahin zurückfahren, wo er hergekommen ist.
Zurück ins Banat
Am 21. Juni 1945 ging es zurück, mit der Fähre über die Donau, am Stift Melk vorbei bis Sankt Pölten. übernachtet wurde auf einen großen Bauernhof, in Begleitung eines russischen Soldaten. Dabei wurde die Familie jedoch ausgeraubt: Nur noch ein einziges Pferd blieb an dem schweren Wagen zurück. Das Akkordeon der Mädels war auch weg.
Wien war stark bombardiert. Am Schloss Schönbrunn vorbei, ging es im Eiltempo ostwärts. Man hatte kaum noch Rasttage eingeplant. Die Russen bauten eine Pontonbrücke über die Donau und später über die Theiß. In Szeged wurden wir entlaust, obwohl niemand Läuse hatte. Dann ging es ohne Zwischenfälle weiter bis Nadlac an der ungarisch-rumänischen Grenze. Das Pferd war müde, konnte kaum noch aufstehen. Die Mutter nahm sich eine Lohnfuhre mit den restlichen Sachen und fuhr nach Hause. Die Kinder wurden in Arad bei einer deutschen Familie untergebracht, bis die Registratur abgeschlossen war. Nachdem der Vater bereits von der Front zurück war, konnte er die Kinder dann abholen. Zuhause angekommen, fand man die Häuser von rumänischen Kolonisten besetzt. Es herrschte wieder Wohnungsmangel.
Das Unheil, das durch den zweiten Weltkrieg in Europa entstanden ist, sowohl materiell als auch human, ist unermesslich. Durch die Agrarreform in Rumänien waren alle deutschen Bauern entschädigungslos enteignet worden, man stand vor dem Nichts. 1947 war auch noch ein Dürrejahr im Banat, es gab wenig zu essen – vor allem Suppen mit Brot. Die gesamte Tages-Aktivität reduzierte sich nur noch auf die Beschaffung von Essbarem. Im Dorfladen gab es rationierte Lebensmittel. 1949 wurde die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft gegründet, „Kollektiv“ genannt. Als Vorbild galt die Sowjetunion. Man konnte leichter mit den Menschen umgehen, wenn sie nichts besaßen. Sie waren abhängiger und gefügiger.
1951 spitzte sich die politische Lage zwischen Tito und Stalin zu. Die Folge war, dass alle kommunistische Staaten die Beziehung zu Tito abbrechen mussten. Entlang der Grenze zu Jugoslawien wurden viele Banater Schwaben als „unzuverlässige Elemente“ in die Bărăgan-Steppe im Südosten des Landes verschleppt. Meine beiden Familien waren auch dabei. Die Familie mütterlicherseits war in Vădeni Noi, die Familie väterlicherseits in Răchitoasa.
Am Montag, den 18. Juni 1951, mussten alle Sachen gepackt werden und innerhalb von drei Stunden, sollten sich die Familien am Bahnhof einfinden. Am Lenauheimer Bahnhof war ein reges Treiben. Ein Soldat bewachte die Familie, da war kein Entkommen. Transportmittel wurden bereitgestellt. Vieh, Möbel, Lebensmittel wurden gepackt und am Bahnhof in einen Viehwaggon verladen. Johann Enderle hat die Situation in seinem Roman „Durch den Steppensand des Lebens“ lebensnah dargestellt.
Der Zug hatte eine Begleitmannschaft aus Offizieren und Soldaten, die in einem Personenwagen mitfuhren. Sobald der Zug stehenblieb, waren sofort die Wachsoldaten mit Gewehr postiert. Auf dem Stoppelfeld wurde abgeladen. Weil keine Unterkunft da war, wurde zuerst ein sogenannter „Bunker“ erstellt. Dies war eine Grube von 3×4 Metern und einer Tiefe von einem Meter. Darauf kam ein schiefes Dach, welches mit Schilf gedeckt war. Vorne waren ein Fenster und eine Tür. In einem zweiten Schritt bauten sich die Deportierten Häuser. Das kleine Haus bestand aus einem Zimmer und einer Küche, das große Haus aus zwei Zimmern und einer Küche dazwischen. Für den Bau gab es eine Schablone aus Brettern, die mit feuchter Erde voll gestampft wurde. Das Bauholz konnte bei der Bauleitung abgeholt werden. Fenster und Türen waren genormt. Der Fußboden bestand aus bloßer Erde. Die Öfen und die Backröhre waren aus Lehmziegeln gemauert. Das Dach wurde mit Schilf gedeckt. Die Häuser waren einheitlich, innen und außen mit Kalk getüncht.
Die Ausweise waren mit „0.0.“ gestempelt, dies bedeutete „domicil obligator“, also Zwangsaufenthalt. Man durfte sich nicht weiter als 12 km vom jeweiligen Ort entfernen. Ende Oktober war das Haus fertig gebaut. Die Mütter arbeiteten auf der Baumwollplantage, auf dem Reisfeld oder in der Gärtnerei. Die Donau war die einzige Wasserquelle. Der Winter 1953/1954 war sehr kalt mit viel Schnee. Einige Häuser waren bis zum Dach mit Schnee verweht, sie mussten immer wieder freigeschaufelt werden. Impressionen hierzu schildert Wilhelm Weber in seinem Buch: „Und über uns der endlose blaue Himmel“. Dieses Buch ist ein Mahnmal für das unsägliche Leid, das schuldlosen deutschen Menschen von den Machthabern einer brutalen Diktatur angetan worden ist.
Insgesamt sind in der rumänischen Tiefebene 18 Dörfer der Banater Schwaben entstanden, die dort mit viel Fleiß und Ausdauer ihr Leben gemeistert haben. Die Hoffnung auf Rückkehr wurde nie aufgegeben, doch das Leben ging weiter: Kinder werden geboren, es wurde gesungen und Kirchweih gefeiert. Im März 1956 erfolgte die Rückreise ins Banat. Die Häuser in der Heimat waren immer noch enteignet, es herrschte wieder Wohnungsmangel. Doch auch hier ging das Leben weiter und immer weiter. Die Banater Schwaben ließen sich nicht unterkriegen.
Diese Geschichte ist eine Hommage an alle Mütter und Omas, die diese schwere Zeit gemeistert haben, ein Dank für ihren unermüdlichen Einsatz, damit aus uns Nachgeborenen wohlerzogene, selbstsichere und glückliche Menschen werden.