Acht Wochen nach seinem 16. Geburtstag gefallen

Auf dem Kriegerdenkmal in Lenauheim ist sein Name eingemeißelt: J. Stein. Auch im Lenauheimer Heimatbuch von Hans Bräuner (1982) sowie im zweiten, dem Leidensweg der Banater Schwaben im 20. Jahrhundert gewidmeten Band der Reihe „Das Banat und die Banater Schwaben“ (1983) ist der Name Josef Stein in der Liste der Opfer des Zweiten Weltkriegs angeführt, hier zusätzlich mit seinem Geburtsjahr 1925, aber ohne Angaben zum Todesdatum und -ort.

Von den rund 2400 Einwohnern Lenauheims waren 283 Männer in den Kriegsjahren 1941-1945 ins rumänische und deutsche Heer eingezogen. Josef Stein ist eines von 93 Kriegsopfern, die die Gemeinde zu beklagen hatte. Und er war der erste Gefallene aus Lenauheim. Das Tragische an seinem Schicksal: Josef Stein wurde nur 16 Jahre alt.

Das Licht der Welt erblickte er am 15. September 1925 in Lenauheim. Sein Vater Sebastian Stein war gebürtiger Lenauheimer, seine Mutter Maria Stein, geb. Heinrich, stammte aus Hatzfeld. Josef war das dritte von vier Kindern der Familie. Das erste ist im Kindesalter gestorben und er, Josef, musste sein junges Leben auf dem Schlachtfeld lassen. Die anderen zwei Geschwister, Katharina und Franz, erreichten ein durchschnitt-liches Lebensalter.

Einzelheiten über die Todesumstände von Josef Stein liefern zwei hier abgebildete Urkunden, die uns sein Cousin Anton Heinrich überlassen hat. Der hochbetagte Mann bestätigte uns überdies schriftlich, dass Josef Stein der erste Lenauheimer Kriegstote gewesen sei. Die Nachricht, dass er „für Führer, Volk und Vaterland“ gefallen sei, war die erste in einer langen Reihe ähnlicher Meldungen, die die Angehörigen in Lenauheim erreicht und Eltern, Ehefrauen, Kindern und Geschwistern leidvolle Stunden bereitet haben.

Aus der an die Eltern adressierten Mitteilung der Auskunftstelle für Kriegsverluste der Waffen-SS geht hervor, dass die Sterbefallanzeige über ihren Sohn, „den SS-Schützen Josef Stein“, am 10. März 1942 dem zuständigen Standesamt in Berlin zur Beurkundung vorgelegt wurde.

Die auf Antrag der Angehörigen des Kriegsopfers am 1. März 1956 ausgefertigte Sterbeurkunde hält fest: „Der Zimmermannslehrling, SS-Schütze Josef Stein, katholisch, wohnhaft in Lenauheim 113 im Banat/Rumänien, ist am 8. November 1941 östlich von Kiestinki in Karelien gefallen.“

Aufgrund der Bezeichnung der Behörde, die das erste Dokument ausgestellt hat, wie auch des Rangs des Gefallenen (SS-Schütze war der niedrigste Rang bei der Waffen-SS) steht eindeutig fest, dass Josef Stein wie fast alle Volksdeutschen in der Waffen-SS gedient hat. Wann und unter welchen Umständen der junge Zimmermannslehrling seine Heimat verließ, um sich in einen SS-Kampfverband einzureihen, ist nicht bekannt. Tatsache ist, dass er sich freiwillig zu „den Deutschen“ meldete. Es ist davon auszugehen, dass dieser Schritt in der Zeitspanne erfolgte, für die der Historiker Paul Milata in seinem Werk „Zwischen Hitler, Stalin und Antonescu. Rumäniendeutsche in der Waffen-SS“ (3. Auflage, Schiller Verlag Hermannstadt/Bonn 2019) die Bezeichnung „verbotene Freiwilligkeit“ geprägt hat. Es handelt sich um den Zeitraum September 1940 – März 1943, der zwischen der in Rumänien von Oktober 1939 bis Juni 1940 durchgeführten „1000-Mann-Aktion“ – diese erste SS-Rekrutierung außerhalb des Deutschen Reiches erwies sich als Pilotprojekt für die spätere Rekrutierung von Volksdeutschen in die Waffen-SS – und dem Abschluss des Waffen-SS-Abkommens zwischen der Reichsregierung und der rumänischen Regierung am 12. Mai 1943 liegt, das die Grundlage zur SS-Massenrekrutierung schuf.

Der Begriff „verbotene Freiwilligkeit“ deute, so Milata, „einerseits auf das Bukarester und Berliner Verbot rumäniendeutscher Eintritte in reichsdeutsche militärische Einheiten vom September 1940 bis März 1943, andererseits auf die Tatsache hin, dass ein solcher Schritt zu diesem Zeitpunkt juristisch betrachtet nur freiwillig erfolgen konnte“. Da die SS, die Masse der Rumäniendeutschen wie auch Volksgruppenführer Andreas Schmidt selbst das Verbot zutiefst ablehnten, organisierte die Deutsche Volksgruppe in Rumänien im genannten Zeitraum eine Anzahl von geheimen SS-Rekrutierungen. Die größte war die sogenannte „600-Mann-Aktion“ im Frühjahr 1941, als 600 Rumäniendeutsche im Tross der durchziehenden SS-Division „Das Reich“ das Land verließen und zur Waffen-SS kamen. Darüber hinaus traten viele junge Banater Schwaben ab April 1941 die Flucht nach Deutschland über das benachbarte, nunmehr deutsch besetzte Serbien an. Laut Milata belief sich die Zahl der rumäniendeutschen Waffen-SS-Angehörigen im Januar 1942 auf 2500, Ende 1942 sollen es mindestens 6000 gewesen sein.

Was mag wohl den blutjungen Lenauheimer Josef Stein wie auch viele andere Jugendliche bewogen haben, sich freiwillig zur Waffen-SS zu melden? War es der unter den Rumäniendeutschen allgemein verbreitete Deutschland-Mythos und ihre kritiklose, verklärte Bewunderung des Mutterlandes? War es der Einfluss der nationalsozialistischen Propaganda vor allem unter den Jugendlichen und die damit verbundene Abenteuerlust sowie die Verherrlichung der Waffen-SS als Elite-Truppe? Oder war es die Faszination, die von den seit Oktober 1940 in Rumänien stationierten reichsdeutschen „Lehrtruppen“ oder den deutschen Einheiten ausging, die während des Balkanfeldzuges im April 1941 durch das Banat in Richtung Belgrad vorstießen? Jedenfalls wuchs bei vielen jungen Banater Schwaben der Wunsch, im deutschen Heer zu dienen.

Paul Milata stellt die Gründe des SS-Eintritts differenziert dar: Dieser sei „weder das ausschließliche Ergebnis von Zwang oder Druck noch von Begeisterung oder dem ‚Ruf des Blutes‘, sondern der Schlusspunkt individueller Abwägungen (gewesen), die nur aus der Perspektive des Kontextes und der konkreten Umstände von Zeit, Ort und Bildungsgrad der Rekrutierungsanwärter nachvollzogen werden können“. Als Kontext versteht er das dreifache Spannungsfeld zwischen Berlin, Bukarest und Moskau: Der Eintritt der Rumäniendeutschen in die Waffen-SS „war nicht nur eine Geste der Unterstützung NS-Deutschlands – trotz oder wegen Hitler –, sondern auch eine Reaktion auf das nationalistische System Rumäniens ab 1918 und ein deutliches Zeichen gegen die Sowjetunion stalinistischer Prägung“.

Josef Stein ist, wie schon erwähnt, am 8. November 1941 bei Kiestinki gefallen. Todesdatum und -ort lassen den Schluss zu, dass er an der Murmansk-Front, wofür die nationalsozialistische Propaganda den Ausdruck Eismeerfront geprägt hatte, im Einsatz war. Die Wehrmacht wollte 1941 die sowjetische Hafenstadt Murmansk auf der Halbinsel Kola erobern, um den Nachschub alliierter Rüstungsgüter, die mit militärisch stark gesicherten Frachtschiffkonvois, den sogenannten Nordmeergeleitzügen, nach Murmansk und anschließend über die Murmanbahn zu den Hauptfronten kamen, zu unterbrechen. Diese Angriffsoperation war Teil des Unternehmens „Silberfuchs“, das am 22. Juni 1941, dem Tag des Überfalls auf die Sowjetunion, begann und eigentlich drei Operationen umfasste.

Zunächst wurde der nach dem Sowjetisch-Finnischen Krieg 1939-1940 an die Sowjetunion abgetretene Nordmeerhafen Petsamo besetzt (Unternehmen „Rentier“). Eine Woche später starteten die beiden anderen Militäroperationen gleichzeitig. Unter dem Decknamen „Platinfuchs“ sollte das Gebirgskorps Norwegen unter General Eduard Dietl, bestehend aus der 2. und 3. Gebirgs-Division, zusammen mit einigen finnischen Einheiten innerhalb weniger Tage Murmansk einnehmen. Aufgrund des erbitterten Widerstands der sowjetischen Truppen und des schwierigen, teils unbekannten Geländes misslang jedoch der schnelle Vormarsch. Die Operation endete im September in einem Desaster: Dietls Truppen erlitten hohe Verluste, ohne Bodengewinne erzielen zu können. Murmansk blieb in sowjetischer Hand.

Rund 250 Kilometer weiter südlich bei Salla sollte das XXXVI. Gebirgskorps unter General Hans Feige, bestehend aus der 169. Infanterie-Division und der SS-Division „Nord“, zusammen mit dem finnischen III. Korps im Rahmen des Unternehmens „Polarfuchs“ versuchen, die von Murmansk nach Süden führende Murmanbahn zu unterbrechen. Auch hier hatten die deutschen Truppen von Anfang an Probleme mit dem schweren Terrain. Zusätzlich entpuppte sich die SS-Division „Nord“ als ungeeignet für die arktische Kriegführung. Während der deutsche Vormarsch im Juli gestoppt wurde, rückten die finnischen Truppen schnell vor und nahmen am 7. August Kiestinki (heute russisch Kestenga) ein. Aufgrund der finnischen Fortschritte wurde die SS-Division „Nord“ nach Süden verlegt, um die Finnen zu unterstützen. Am 30. Oktober begann eine neue Offensive östlich von Kiestinki, die Kämpfe dauerten bis zum 13. November. Aufgrund diplomatischen Drucks seitens der USA brach Finnland den Angriff am 17. November ab. Das Unternehmen „Silberfuchs“ war gescheitert. Die Rote Armee konnte die nördliche Front halten, an der sich ein langer zäher Stellungskrieg entwickelte.

Josef Stein ist demnach während der Ende Oktober 1941 begonnenen Offensive gefallen, laut Sterbeurkunde „östlich von Kiestinki in Karelien“. Noch präziser sind die Angaben, die die Gräbersuche online auf der Website des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge liefern: „A. d. Vorm. Str. z. Murmansk Bahn, ostw. Kiestinki“, also auf dem Vormarsch [entlang der] Straße zur Murmansk Bahn [Murmanbahn], ostwärts [von] Kiestinki. Obwohl die Einheit, in der Josef Stein als SS-Schütze diente, nicht angegeben wird, kann mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass er der SS-Division „Nord“ angehörte, die im Januar 1942 zur SS-Gebirgs-Division „Nord“ umgewandelt wurde und im Oktober 1943 im Zuge der Durchnummerierung der Divisionen der Waffen-SS die Nummer 6 erhielt.

Die Suche ergab auch, dass Josef Stein auf der Kriegsgräberstätte in Salla (Russland, Oblast Murmansk), Endgrablage: Block 3, Reihe 1, Grab 25 ruht. Sein Name und die persönlichen Daten seien auch im Gedenkbuch der Kriegsgräberstätte verzeichnet, ist zu erfahren. Der Friedhof liegt rund fünf Kilometer hinter der finnisch-russischen Grenze in der Osthälfte der ehemaligen finnischen Gemeinde Salla, die 1944 an die Sowjetunion abgetreten werden musste und von den Finnen als Alt-Salla bezeichnet wird.

Auf dieser Kriegsgräberstätte ruhen mehr als 7700 deutsche Soldaten, die an der Salla- und der Kiestinki-Front gefallen sind. 1941 durch die Deutsche Wehrmacht angelegt, überstand der mit Natursteinmauern eingefasste, etwa drei Hektar große Friedhof, als einer der wenigen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nahezu unbeschadet die Zeit – wohl auch, da er im Grenzsperrgebiet zu Finnland liegt. 1994/95 wurden die Natursteinmauern und das große Denkmal instandgesetzt, der Gedenkplatz gepflastert, Symbolkreuzgruppen über das Gräberfeld verteilt und die ehemalige Zufahrtsstraße wieder befahrbar gemacht. Später wurden die einige Jahre zwischengelagerten 24 Schrifttafeln mit den Namen und Lebensdaten der hier Ruhenden an sechs Natursteinpfeilern beiderseits des Denkmals angebracht und weitere 12 Namenstelen aus Granit aufgestellt, auf denen zusätzlich etwa 3100 Namen und Daten verewigt sind. Der Friedhof wurde am 28. August 2000 eingeweiht.

Nirgendwo wird die Sinnlosigkeit und Grausamkeit von Kriegen so deutlich wie auf einer Kriegsgräberstätte. Kriegsgräberstätten sind, ebenso wie Kriegerdenkmäler, Orte der Erinnerung und Mahnung, Orte gegen das Vergessen. Josef Stein, dessen Tod auf einem Schlachtfeld in Karelien sich 2021 zum 80. Mal jährt, ist nicht vergessen. Sein Name ist auf einer Stele auf der Kriegsgräberstätte im russischen Salla wie auch auf dem Kriegerdenkmal in seinem Heimatort Lenauheim verewigt.

Die Beschäftigung mit seinem Schicksal gibt dem Kriegsopfer Josef Stein ein Gesicht. Sie macht deutlich, dass hinter jedem Grabstein, hinter jedem Namen ein Mensch steht, mit nicht erfüllten Zukunftsplänen, mit Familienangehörigen und Freunden, die an dem Verlust schwer zu tragen hatten. Es liegt an uns, nicht zu vergessen, was passiert ist, der Opfer zu gedenken und an sie zu erinnern. „Es gibt kein Ende des Erinnerns. Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte. Denn ohne Erinnerung verlieren wir unsere Zukunft“, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Ansprache zum 75. Jahrestag des Kriegsendes im vergangenen Jahr. Die Erinnerung bedeutet auch Mahnung, die Lehren aus diesem furchtbaren Krieg in die Zukunft zu tragen, für Frieden und Freiheit, für Toleranz und Menschlichkeit einzutreten und damit sicherzustellen, dass solche Geschehnisse nie wieder passieren.

Verfasst von Werner Griebel und Walter Tonţa