Mit einem Zitat aus dem Gedicht „Einst und Jetzt“ von Nikolaus Lenau übertitelten die Banater Schwaben Österreichs, die Jakob-Bleyer-Gemeinschaft aus Ungarn und die Landsmannschaft der Banater Schwaben aus Deutschland die Veranstaltung Lenau – vor 220 Jahre im Banat geboren: „Möchte wieder in die Gegend…“, die am 6. Oktober im Festsaal des Bezirksmuseums Wien-Josefstadt stattfand. Zahlreiche Gäste und Teilnehmer aus Österreich, Rumänien, Ungarn und Deutschland waren der Einladung gefolgt.
Judith Edelmann, Bezirksrätin im 8. Bezirk Wien-Josefstadt und stellvertretende Vorsitzende der Kulturkommission, begrüßte die Gäste, unter denen sich auch Vertreter der Botschaft Rumäniens in Wien, Botschaftsrätin Melania Blendea und Botschaftsrat Adrian Adam, die beide aus dem Banat stammen, befanden. Nach einer kurzen Einführung von Remo Neusatz seitens des Vereins der Banater Schwaben Österreichs ergriff Peter-Dietmar Leber das Wort.
Der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft der Banater Schwaben, der zusammen mit seiner Frau Hiltrud angereist war, erinnerte in seinem Grußwort an frühere Einwendungen gegen eine Vereinnahmung des Dichters Nikolaus Lenau durch die Banater Schwaben, zumal dieser nicht einmal ein Jahr im Banat gelebt habe und es danach keinen Bezug mehr zur Region gebe. Aber wenn Lenau von der Marosch, von der Heide, den Zigeunern, dem Teich, von bestimmten Lebens- und Verhaltensweisen schreibt, „wer von uns könnte nicht gleich einen Bezug zu dem Raum und seinen Menschen herstellen, der uns, und natürlich auch Lenau, der bis zu seinem 18. Lebensjahr in Ungarn gelebt hat, prägte“, fragte Leber. Lenau sei im Banat immer mehr als seine Literatur gewesen, er war „die große Identifikationsfigur für die sich festigende deutsche Gemeinschaft im Banat“. Lebers Appell in Bezug auf Lenau: „Entdeckt ihn, lest ihn, übersetzt ihn, macht ihn euch zu eigen, zu einem der euren, damit er einer der unseren bleiben kann!“
Hans Dama, Vorsitzender der Banater Schwaben Österreichs, ging in seinem Vortrag zunächst auf Lenaus Kindheit und Jugend ein, der als Franz Nikolaus Niembsch am 13. August 1802 in Csatád im Banat, dem heutigen Lenauheim, geboren wurde. Lenaus Familie ist oft umgezogen, sie lebte in Altofen, Pest, Tokaj, dann wieder in Pest, später in Pressburg. Die in Ungarn verbrachten Jahre gehörten für Lenau zu den schönsten seines Lebens. Die pannonische Landschaft und die Lebenswelt der Menschen widerspiegeln sich in seinen Dichtungen. Dies geht nicht nur auf seine Vorliebe für diese Landschaft zurück, sondern auch auf die Erzählungen seiner Mutter, die ihren Niki über alles liebte und die Erinnerung an die Zeit im Banat wach hielt. Dama zitierte Gedichte wie „Mischka an der Marosch“, „Die Heideschenke“, „Husarenlieder“, „Der Räuber im Bakony“, „Die drei Zigeuner“, die an Lenaus Zeit in Ungarn erinnern, ebenso wie das stimmungsvolle Gedicht „Nach Süden“: Dort nach Süden zieht der Regen, / Winde brausen südenwärts, / Nach des Donners fernen Schlägen, / Dort nach Süden will mein Herz.
Diese Stimmungs- und Naturgedichte, romantisch angehaucht, die Zigeuner- und Husarenlieder, aber auch Elemente in den späteren Schilf- und Waldliedern sind ein deutlicher Beleg dafür, dass Lenau auch als Banater Dichter betrachtet werden darf. Lenau war, wie Dama in seinem spannenden Vortrag hervorhob, ein Wanderdichter, aber vor allem ein „Freiheitsdichter“, eine Lichtgestalt seiner Zeit. Zu den Großeltern nach Stockerau bei Wien hatte die Mutter ihn geschickt, um ihm ein Studium zu ermöglichen. Lenau studierte Philosophie in Wien, ungarisches Recht in Pressburg, Landwirtschaft in Ungarisch- Altenburg, dann wieder Philosophie, später Recht und schließlich Medizin in Wien. Wie in der zuletzt (2002) erschienen Biografie „Zeit des Herbstes“ von Michael Ritter geschildert, war Niki ein eleganter „Husarenschnäuzer“, der in schwarzem Samtrock und in Lackstiefeln gekleidet ein Star in den Billardbars und Cafés Wiens war. Niki betrieb seine Studien nicht ernsthaft und wandte sich schließlich der Dichtung zu. Er war sich seiner Wirkung auf Menschen sehr bewusst und beeindruckte mit seinem Gitarren- und Geigenspiel sowie seinen Imitationen von Vogelstimmen.
Als weitere Einzigartigkeit seiner dichterischen Laufbahn nannte Dama den „reichsten Wortschatz“ unter allen deutschen Dichtern nach Goethe. Außerdem seien Lenaus Gedichte mehr als 300-mal vertont worden, unter anderem von Franz Liszt, Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann, Richard Strauß, Arnold Schönberg, Hugo Wolf, Max Reger, Carl Orff. Seine symbolistischen Naturgedichte „Schilflieder“ wurden sogar mehr als 150-mal vertont, was kaum auf ein anderes deutsches Gedicht seither zutreffen dürfte.
Lenau schrieb 1821 erste Gedichte, Liebesgedichte für Bertha Hauer, die er in Wien kennengelernt hatte. Nach dem Tod der Mutter 1829, die ihm sehr nahestand, nahm er 1830 bei seinen Gedichtveröffentlichung das Pseudonym „Lenau“ an. Ein Jahr später lernte er bei einer Reise nach Deutschland Gustav Schwab und andere schwäbische Dichter kennen, die ihm zeitlebens verbunden blieben. 1832 erschien im berühmten Stuttgarter Verlagshaus Cotta Lenaus erster Gedichtband. Nach einer enttäuschenden Amerikareise schrieb Lenau seine erste versepische Dichtung, den „Faust“, da er – wie Hans Dama betonte – der Meinung war, dass Faust unser aller Erbe und kein Monopol Goethes sei.
In Wien-Lainz lernte Lenau damals Sophie von Löwenthal kennen, die Gattin seines Freundes Max von Löwenthal, mit der er zehn Jahre lang in persönlicher und brieflicher Verbindung stand. Die schöne, geistvolle Frau erwiderte zwar die Liebe des Dichters, aber ohne sein leidenschaftliches Verlangen zu erfüllen. Seine an Sophie gerichteten Liebes-„Zettel“ und -Briefe, die sich wie ein Roman dieser ungewöhnlichen Beziehungen lesen, sind in die Weltliteratur eingegangen. Lenau widmete Sophie Liebesgedichte, wie „Das dürre Blatt“ oder „An die Entfernte“, die von Mihai Eminescu, der Lenau bewunderte, ins Rumänische übertragen wurden. Von der verehrten, entfernten Sophie konnte Lenau sich bis zu seinem Wahnsinnsverfall nie gedanklich trennen, obwohl die Verbindung aussichtslos war. Somit löste er auch eine Verlobung mit der Opernsängerin Karoline Unger, und auch im Fall der Marie Behrends, mit der Lenau noch 1844 Hoffnungen auf ein gemeinsames Glück hegte, misslang die Abnabelung von der Minneherrin Sophie. Stattdessen durchlitt er neue Nervenkrisen.
Lenau hatte in der Zwischenzeit zwei weitere Versepen veröffentlicht: „Savonarola“ und „Die Albigenser“. 1843 sind seine bekannten „Waldlieder“ entstanden. 1844 sei das „Schicksalsjahr“ Lenaus gewesen, erzählte Dama: Der Dichter erlitt einen Schlaganfall und verfiel dem Wahnsinn. Er starb mit 48 Jahren in einer Irrenanstalt in Oberdöbling bei Wien, in der Nähe seiner Schwester Therese und des Schwagers Anton Schurz, und wurde in Weidling bei Klosterneuburg beigesetzt.
Dem Vortrag von Hans Dama folgten Gedichtvorträge von Josef Szarvas. Remo Neusatz moderierte gewandt und kundig die Veranstaltung und kündigte mit kurzen Einführungen die von Professor Andrei Roth am Klavier und der aus Temeswar stammenden Sopranistin Simina Ivan dargebotenen musikalischen Einlagen an, die berührten und passend zu den Gedichtvorträgen überleiteten. Das Publikum lauschte dem „Frühlingsblick“, vertont von Othmar Schoeck, dem „Frühlingsgedränge“ in der Vertonung von Richard Strauss oder dem wunderbaren „Schilflied“, vertont von dem Banater Komponisten Emmerich Bartzer, sowie einer Vertonung von Versen des rumänischen Dichters Mihai Eminescu.
Es folgte ein Videovortrag von Dr. Kathi Gajdos-Frank, Direktorin des Jakob-Bleyer Heimatmuseums in Budaörs, Ungarn. Sie berichtete anhand zahlreicher Bilder von ihrer Informationsreise nach Lenauheim im Sommer des vergangenen Jahres und zeigte unter anderem Aufnahmen aus dem im Geburtshaus des Dichters untergebrachten Lenau- und Heimatmuseum. Gleichzeitig informierte sie die Zuhörer über das Heimatmuseum der Ungarndeutschen in Budaörs nahe Budapest und lud zum Besuch und Erfahrungsaustausch ein.
Sylvia Festa, geborene Berwanger, stellte in einer kurzen Präsentation ihr 2021 erschienenes populärwissenschaftliches Familienbuch „Sie waren Banater Schwaben. Die Geschichte meiner Familie“ vor, das als Beispiel für all jene interessant ist, die sich mit Ahnenforschung beschäftigen.
Die Veranstaltung hat die Gäste mit der doch sonderbaren Art des Dichters Nikolaus Lenau bekanntgemacht. Obwohl der Dichter des Weltschmerzes zu den erfolgreichsten und bestbezahlten Autoren seiner Zeit gehörte, ist er heute trotzdem weitgehend vergessen und wird kaum noch gelesen und gelehrt. Nur in Fach- und Interessentenkreisen ist er noch ein Begriff. Zuletzt erschien 2002 die oben genannte Lenau-Biografie des Wiener Germanisten Michael Ritter mit unveröffentlichten Briefen und Dokumenten des Dichters. Hans Dama zitierte einen Freund Lenaus mit der Aussage: „Lenau war ein sonderbarer Mensch“, der sich jedoch im Kreise der Freunde wie Gustav Schwab, Ludwig Uhland, Justinus Kerner oder Alexander Graf von Württemberg immer wohl fühlte. Er konnte tieftraurig, aber auch fröhlich und lustig sein. „Lenau war faustengleich“, zitierte Dama. Mit diesen tiefgehenden, vielseitigen Eindrücken versammelten sich die Teilnehmer zu einem gemeinsamen Umtrunk im Ausstellungssaal des Bezirksmuseums Josefstadt und vertieften sie anschließend im Restaurant „Centimeter“ in der Lenau-Straße Wiens.