Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Dorf: „Die Russen kommen!“ Es war Ende August, Anfang September 1944. Die Dorfbewohner, zur damaligen Zeit etwa zu 98 Prozent Deutsche, waren verunsichert. Unruhe machte sich breit.
Die meisten Männer waren zum Kriegsdienst in der deutschen Armee, einige auch bei den rumänischen Truppen, eingezogen. Somit waren fast nur noch Frauen mit Kindern sowie alte und kranke Menschen in der Heidegemeinde Lenauheim verblieben. Die Menschen waren ratlos, zumal sie nicht wussten, was ihnen die Zukunft bescheren werde. In den Tagen nach dem Umsturz mussten sie Waffen, Rundfunkgeräte, Kraftfahrzeuge und Fahrräder abliefern.
Nachdem Mitte September aus Griechenland kommende deutsche Einheiten im Banat eingetroffen waren, rief die provisorische Führung der Deutschen Volksgruppe in Rumänien mit Sitz in Hatzfeld die deutsche Bevölkerung zur Flucht Richtung Westen auf. „Laut Führerbefehl darf kein deutscher Mensch in die Hände der Russen fallen, deshalb wurde die sofortige Evakuierung der deutschen Bevölkerung angeordnet“, hieß in einer Kundmachung, die mittels Plakatierung und Austrommeln bekanntgegeben wurde. In Lenauheim wie auch in anderen Banater Ortschaften stand in jenen Tagen die Frage im Raum: flüchten oder bleiben? Nicht alle Bewohner haben sich für die Flucht entschieden, zumal die Meinungen in dieser Frage geteilt waren. Während die einen meinten bleiben zu müssen, um ihr Hab und Gut zu schützen, wollten die anderen nichts wie weg, um ihr Leben zu retten.
Meine Griebel-Großmutter hat sich zum Flüchten entschlossen. Möbel und Haushaltsgegenstände wurden bei Familie Schäfer (Grumhalsich Michl) sowie bei weiteren Familien, die sich für das Bleiben entschieden hatten, untergestellt. Zur Gruppe derjenigen, die den Entschluss gefasst hatten, die Heimat zu verlassen, gehörten auch meine Heckl-Großeltern mit meiner Mutter.
Der Pferdewagen wurde gut bepackt und mit einer Plane, die auf der Tenne benutzt wurde, überspannt. Meine Mutter Katharina, ihre Eltern Johann und Theresia und der kleine weiße Haushund namens „Spitz“ machten sich auf den Weg ins Ungewisse. Sie reihten sich in den langen Treck ein, dem sich auch meine Griebel-Oma anschloss. Mit Pferdegespann und Planwagen, vereinzelt mit Traktoren, aber auch zu Fuß ging es zunächst nach Hatzfeld und von dort über die Grenze nach Serbien, durch Ungarn und Österreich bis in die Tschechei (damals Protektorat Böhmen und Mähren, dem Großdeutschen Reich einverleibt).
Der Fluchtweg war mühsam, die Flüchtenden waren vielen Schwierigkeiten ausgesetzt. Dennoch kamen sie ohne Personenverluste in Oberplan (tschechisch Horní Planá) im Böhmerwald (tschechisch Šumava) an. Einquartiert wurden meine Mutter und meine Großeltern bei Familie Herbst, die zwei Mädchen in Alter meiner Mutter hatte. Hier blieben sie bis zu ihrer Rückkehr ins Banat – allerdings ohne meinen Großvater.
Am 9. Mai 1945, dem Tag, als der Krieg zu Ende ging, waren die Menschen dazu aufgerufen worden, sich an der Beseitigung der Trümmer und an Aufräumarbeiten zu beteiligen. Mein Großvater Johann (Jani) Heckl war auch dabei. Als er eine Flasche anfasste, explodierte diese. Es stellte sich heraus, dass es sich um eine Phosphorbombe mit einem Gemisch aus weißem Phosphor und Kautschuk handelte, welche als Brandbombe und als Nebelkampfstoff eingesetzt wurde. Durch das Phosphor, das sich durch den Kontakt mit dem in der Luft enthaltenen Sauerstoff selbst entzündet, zog er sich am ganzen Körper schwerste Verbrennungen zu. Er wurde so schnell wie unter den damaligen Umständen möglich ins Kreiskrankenhaus nach Krumau an der Moldau (tschechisch Český Krumlov) eingeliefert. Die Behandlung begann zwar sofort, jedoch hatte er aufgrund des hohen Verbrennungsgrades keine Überlebenschance. In Krumau an der Moldau wurde mein Großvater dann auch beerdigt. Auf seinem letzten Weg wurde er von nur wenigen Menschen begleitet, eben von seiner Ehefrau, der Tochter, dem Pfarrer und dem Bestatter. In dieser Zeit, vielleicht in etwa vergleichbar mit den heutigen, durch die Corona-Pandemie verursachten Einschränkungen, war es problematisch, bei den Ämtern die zur Beerdigung notwendigen Unterlagen zu erhalten. Die Sterbeurkunde meines Großvaters bewahren wir bis heute auf. Auf dem Areal der damaligen Beerdigungsstätte stehen heute angeblich Wohnblocks.
Für meine Oma und meine Mutter brach eine Welt zusammen. Jetzt standen die beiden Frauen alleine da und wussten nicht, wie es weitergehen soll. Im Sommer sollte es wieder in die Heimat gehen. Der Einspänner, mit dem sie geflüchtet waren, befand sich noch in ihrem Besitz. Mit diesem traten sie dann auch die Reise zurück nach Lenauheim an. Sicherlich war es für die beiden Frauen nicht einfach, sie hatten sich aber anderen Familien angeschlossen, um den beschwerlichen Weg etwas erträglicher zu machen und durchzukommen. Im Spätsommer 1945, vor der Abreise in die Heimat, besuchten meine Mutter und die Großmutter zum letzten Mal die Ruhestätte ihres geliebten Vaters und Ehemannes. Der Eiserne Vorhang, der lange Zeit Ost und West trennte, machte es den Angehörigen unmöglich, die Grabstätte jemals wieder zu besuchen.
Als mein Bruder Walter und ich kleine Kinder waren, erzählte uns unsere Heckl-Oma an langen Wintertagen oft von der Flucht in den Böhmerwald und dem schändlichen Tod ihres Mannes, unseres Großvaters, am 9. Mai 1945. An diesem Tag wurde in unserer Familie jedes Jahr seiner gedacht, und das ist bis heute so geblieben. Für unsere Mutter und unsere Oma war es ein Tag der Trauer. Für viele Menschen in Europa war das Kriegsende mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft verbunden. Und sie wurde besser, für die Menschen aus dem Osten allerdings erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Es entstand ein vereintes Europa und man kann nur hoffen, dass es so bleibt, dass wir, unsere Kinder und Kindeskinder nie wieder einen Krieg erleben müssen.
Dieser Bericht wurde auch bei Radio Temeswar in der „Sendung in deutscher Sprache“ ausgestrahlt. Die Mundartautorin Helen Alba las ihn im Rahmen von „Daheim und unterwegs – Durchs Banat mit Helen Alba“: