Begegnung am Weihnachtsabend

Adam Walkner stieg mit seinen zwei Koffern auf dem Umsteigebahnhof L. um. Doch kaum, dass er einen seiner Koffer auf das Trittbrett setzte, kam schon ein grauhaariger, alter Rumäne mit hoher Pelzmütze an ihn heran, riss ihm den Koffer aus der Hand, ergriff ebenso dienstbeflissen den zweite und rief voll Bewunderung: „Oh, Germania!“

Im Bahnhof standen zwei lange Züge unter Dampf. Der Stationsvorsteher rief zur Eile und Abfahrt auf und der grauhaarige Gepäckträger fragte: „Hierbleiben Herr, oder weiterfahren?“ „Umsteigen in den Zug nach H.“, erklärte Adam Walkner und eilte dem Alten nach, der seine Koffer wortlos in einem Abteil erster Klasse verstaute. Der Zug setzte sich auch schon in Bewegung und Adam Walker hatte Mühe, dem Abspringenden Alten noch schnell einige Lei-Münzen in seine aufgehaltene Kappe nachzuwerfen.

Er lächelte über die Bewunderung des Alten. Er sah ihm also den Bundesdeutschen an. Man glaubte nicht, er sei ein Amerikaner oder sonst einer aus dem Westen. Und man war voll Freundlichkeit und Bewunderung für ihn, den Deutschen.

Adam Walkner lehnte sich in seinen Sitz zurück. Es waren nur wenige Menschen in seinem Abteil. Es war Weihnachtsabend. Er sah zum Fenster hinaus in das verdämmernde Dunkel. Über allen Dingen lag eine stille Feierlichkeit. Es war die Landschaft der Kindheit, der Jugend, die sich ihm schweigend darbot.

Er war schon vor zwei tagen aus der Bundesrepublik zu Besuch gekommen und hatte den anbrechenden Weihnachtsabend mit seinen alten Eltern gefeiert. Dann aber drängten sie ihn. Es ging noch ein später Abendzug und er konnte seinen Bruder noch an diesem Abend besuchen, der nach dem Umsteigebahnhof im ersten Dorf an der Bahnlinie lag. Er wurde dort zwar erst am ersten Weihnachtstag erwartet. Doch der Bruder hatte Kinder und die alten Eltern erfreuten sich des Gedankens, dass der lebendige Weihnachtsmann aus Deutschland noch in der Weihnachtsnacht bei ihnen eintreffe. So war er losgefahren.

In seliger Beglückung genoss er nun die Fahrt durch das schneeverhangene Land seiner Heimat. Die langgestreckten Bauten der Kolchosensilos, Kukurutz-Hambare und Magazine flogen wie gedruckte Schattentiere an ihm vorbei. Aus der Ferne tauchten die Lichter eines Dorfes hervor. Weiße Dächer und Giebel, Traumbilder der Jugend. Bald kam der Schaffner und prüfte seine Fahrkarte lange, sehr lange. Er fragte nach seinem Reiseziel. „Die erste Station der Linie H:“, antwortete Walkner. Da stellte der Schaffner mit Bedauern fest, dass Walkner in den falschen Zug, gerade in den, der in der entgegengesetzten Richtung fuhr, eingestiegen war. Anstatt gegen H fahrend, aus H. kommend, hatte der Alte ihn verfrachtet.
„So werde ich in der ersten Station aussteigen“, entschied er sofort. Leider ging kein Rückzug mehr. Erst um drei Uhr in der Nacht konnte er zurückfahren. Als der Zug zum erstenmal hielt, stieg Adam Walkner aus. Zuerst war er verärgert, aber dann viel ihm ein, dass hier seine einstige Schulkameradin Greti Bernath wohnte. Er ließ sich jetzt nicht mehr die Koffer tragen. Er fand auch allein hin zu dem einstigen barocken Giebelhaus, gleich am Anfang der Hauptgasse. Sinnend stand er vor dem Haus. Es war das alte geblieben und war irgendwie doch anders. Die Fenster waren dunkel. Er ging in den Hof. In der Küche brannte Licht. Er klopfte an und trat behutsam ein. Greti Bernath stand mit gerötetem Gesicht am Küchenherd. Sie wandte sich dem Fremden zu.

„Greti, kennst mich noch?“, fragte er mit verhaltener Stimme. Eine Minute lang starrte Greti erschrocken, mit weit aufgerissenen Augen in sein Gesicht. Dann breitete sie beide Hände aus und stürzte auf ihn zu: „Ja Adam, du bist es, du! An deiner Stimme habe ich dich erkannt!“ Er umarmte sie voll Rührung. „Greti!“ rief er aus und sie lag schluchzend an seiner Brust. Dann lösten sie sich beide aus dem Überschwang des Augenblickes. Er war nicht eines Wortes fähig, betrachtete sie nur sprachlos. Das war also sie, die einstige Schulfreundin, das einstige Tanzmädchen, die Jugendkameradin vieler schöner, unantastbarer Stunden froher Zeiten. Heute war sie eine abgemergelte Gestalt, aschgraues Haar über einem zerfurchten Gesicht. Nur ihre Augen, die braunen, träumenden Augen, waren dieselben geblieben. In ihnen lag ein herber, wehmütiger Glanz.

„Gelt, da schaust, wie alt ich geworden bin! Es war zu viel, was über mich gekommen war. Der Peter, mein Ältester, gefallen, meinen Mann habe ich in der Baragan-Steppe begraben. Und die Lentschi hat weggeheiratet ins Bergland, in die Industrie. So bin ich auf meine alten Tage allein geblieben.“ Mit diesen Worten war alles gesagt. Ein ganzes Schicksal. Aber sie wollte nicht dabei verweilen. „Komm!“ sagte sie und führte ihn in die Stube. „Ja, und du, wo kommst du den plötzlich her, buchstäblich wie aus dem Himmel gefallen?“ Er erzählte ihr sein Missgeschick, wie der Alte ihn mit den Koffern in den unrechten Zug gebracht hatte. Oder war es gar kein Missgeschick, sondern Segen? Sie breitete gleich ein weißes Tischtuch aus. „Ich werde dir gleich etwas zu Essen bringen“, sagte sie und ging hinaus.

Er sah sich im Zimmer um. Es waren vertraute Möbel im Raum, aber alles schien so zweckmäßig, so einfach. Kein Christbaum war zu sehen. Nur am Fenster standen einige Muschkateln. „Ja, gibt es denn keinen Weihnachtsbaum?“, fragte er sich. Er nahm den schönsten Muschkatelstock vom Fensterbrett und setzte ihn mitten auf den Tisch. Dann öffnete er seinen Koffer, nahm einige Weihnachtskerzen, Engelhaar und Lametta heraus und schmückte damit den seltsamsten Weihnachtsbaum, den er je erstellt hatte. Und daneben legte er ein Paar Strümpfe und ein Paar Winterhandschuhe, schöne Lederhandschuhe aus Deutschland. Sie waren für die Schwägerin gedacht, aber für die waren noch genug Sachen da. Als letztes stellte er eine Flasche Wein auf den Tisch.

Als Greti mit Tellern und Essbesteck hereintrat, blieb sie überrascht stehen. „Ja, was ist den da? Der Weihnachtsmann ist leibhaftig gekommen und hat das Christkind mitgebracht.“ „Oh“, sagte sie gerührt, „so einen schönen Christbaum habe ich mir nie erträumt.“ „Und jetzt wollen wir die Kerzen anzünden und unsere Weihnachten feiern“, sagte er, „nur das Weihnachtslied musst du singen. Hast du noch deine alte Zither?“ „Ja“, entgegnete sie leise und nahm sie aus dem Kasten hervor. Er zündete die Kerzen an dem seltsamen Flitterbäumchen an und sie sang mit Zitherbegleitung mit ihrer alten, aber noch immer warmgetönten Stimme „Stille Nacht, heilige Nacht“.

Ein seltsamer Zauber lag über dieser schlichten, aber tief ergreifenden Stunde. Sie hielt inne, wagte nichts zu sagen, wagte nicht an Wunden zu rühren. Er aber beugte sich über ihren grauen Scheitel hinab und bat leise: „Und jetzt sing mir noch das alte Lied, das du immer im Frauenverein und im Mädchenkranz gesungen hast ,Ich kenn` ein altes Lied, das meine Mutter sang…“ Sie sang es mit weicher, verinnerlichter Stimme: Ich kenn ein altes Lied…,/Ein Lied von Lieb` und Treu,/Es zog dahin manch Jahr,/Vielleicht war`s gar nicht wahr…,/Das Lied wird immer neu. Vergangene und glückliche Zeiten zogen vorüber an ihren Augen. Erinnerungen tauchen auf, Bilder froher, ungetrübter Tage, die nie wiederkamen. Doch der Abend drohte in Wehmut zu versinken. Da stand sie auf, erinnerte sich ihres warmgestellten Essens, das sie vorbereitet hatte und brachte es herein.

Sie hatten sich an diesem Abend noch viel zu erzählen, bis es Zeit war, zur Bahn zu gehen. Eine Stimmung trug sie, wie ein Traum. Er nahm gerührt Abschied von ihr und küßte sie auf die Wange und auf den glatten Scheitel des grauen Haares. Es war Begegnung und Abschied zugleich von der Jugend, von der Schönheit und vom Glück. Und es war das seltsamste und unvergesslichste Erlebnis, das Adam Walkner in der Heimat hatte.

von Annie Schmidt-Endres

Die Krippe vor dem Altar in Lenauheim